«PSYCHISCHE AUSNAHMEZUSTÄNDE UND HÄUSLICHE GEWALT HABEN ZUGENOMMEN»

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«PSYCHISCHE AUSNAHMEZUSTÄNDE UND HÄUSLICHE GEWALT HABEN ZUGENOMMEN»

Die Coronakrise hat die Arbeit der Polizei verändert. Immer mehr Menschen sind gereizt, aggressiv oder brauchen Hilfe wegen psychischen Leiden. Was bedeutet das für die Stadtpolizei Wädenswil? Welche Einsätze gehen ihr besonders nahe und welche Regeln sind auch für sie schwierig durchzusetzen? Martin Heer, Chef des Polizeikorps, erzählt von einem Jahr im Ausnahmezustand.

Anja Kutter

Eine Wädenswiler Kiosk-Mitarbeiterin muss den Notruf 117 kontaktieren, weil sich eine Kundin strikte weigert, eine Schutzmaske zu tragen. Der ausgerückten Polizei erklärt die Frau, dass ihr die Maske optisch einfach nicht gefalle. Und in einem Wädenswiler Restaurant kommt es zu einer Schlägerei unter fünf Personen – inklusive Wirt –, weil einer der Gäste keine Maske tragen will. Solche und ähnliche Einsätze gehören bei der Stadtpolizei Wädenswil seit einem Jahr zum Alltag. Zudem müssen die Polizistinnen und Polizisten viel häufiger wegen psychischen Notsituationen und häuslicher Gewalt ausrücken als früher. Das sind gefährliche, unberechenbare und belastende Einsätze. Wie die Polizistinnen und Polizisten trotz Zusatzschichten ihre Aufgaben meistern, wo sie besonderes Fingerspitzengefühl brauchen, wo ihr Verständnis aufhört und auf was sie sich nach der Krise freuen, lesen Sie im folgenden Interview.

Martin Heer, seit dem 1. März müssen wir uns an weniger Corona-Massnahmen halten als zuvor. Trotzdem hat man das Gefühl, dass die Menschen einfach genug haben.
Auch wir merken, dass immer mehr Menschen gereizt sind. Unsere Patrouillen müssen vermehrt an das Tragen der Mundschutzmaske oder an die Einhaltung der Abstände erinnern. Es ist aber zum Glück immer noch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, welcher in einer gewissen Form aufbegehrt.

Was machen Sie, wenn sich jemand nicht an geltenden Regeln hält?
Wir erinnern freundlich daran. In den meisten Fällen ist das Problem damit erledigt. Aber es gibt auch Verweigerer. Wenn der Dialog hier nichts bewirkt, gibt es Ordnungsbussen sowie situativ eine Wegweisung. Die Verzeigungen und Bussen können wir aber derzeit noch an einer Hand abzählen.

Haben Sie Verständnis für den Unmut der Bevölkerung?
Die Bevölkerung braucht ein Ventil für ihre Sorgen, Bedenken und ihren Ärger. Wenn wir dafür hinhalten müssen, ist das zwar nicht schön, aber aushaltbar. Beschimpfungen gehören zu unserer Arbeit. Wir müssen uns als Polizisten immer vor Augen halten, dass die Aggressionen nicht gegen uns als Person gerichtet sind.

Wo hört Ihr Verständnis auf?
Bei bewussten Provokationen. Wenn zum Beispiel jemand mit Absicht ein Geschäft ohne Mundschutzmaske betritt. Das gibt für alle viel Arbeit für nichts.

Welche Art von Einsätzen haben denn zugenommen?
Es gab bedeutend mehr Fälle im persönlichen Umfeld. Dazu zählen psychische Ausnahmezustände und häusliche Gewalt. Diese Einsätze sind unberechenbar, für die Einsatzkräfte gefährlich und auch sehr zeitintensiv. Auch haben Sachbeschädigungen, Tätlichkeiten und Littering massiv zugenommen.

Die Jugendlichen haben extrem unter den Einschränkungen gelitten … Das haben wir tatsächlich stark gespürt.
Die «Hängerszene» hat sich vergrössert und sich neue Orte gesucht, was zum Teil Ärger in der Nachbarschaft auslöste. Wenn man jedoch hier mit übertriebener Härte vorgeht, erreicht man das Gegenteil. Was nützt es, wenn wir Jugendliche an einem Ort vertreiben, diese dafür 200 Meter weiter aus Frust Fenster einschlagen?

Wie haben sie solche Brennpunkte entschärft?
Durch die richtige Kommunikation konnten wir viel erreichen. Ausserdem wurden wir bei der Bewältigung dieser Aufgaben tatkräftig unterstützt durch die Fachleute der Abteilung Soziokultur. So konnten wir die Stimmung im Grossen und Ganzen friedlich halten. Fakt ist aber: Die Stadtpolizei Wädenswil kann den Brennpunkten nicht jeden Tag nachgehen.

Weshalb?
Ein Einsatz im Bereich Psyche mit aufgebotenem Notfallarzt und Sanität kann sich schnell über zwei, drei Stunden hinziehen. Da bleibt nicht mehr viel Zeit für die proaktive Arbeit. Eine Art Teufelskreis in dieser Zeit. Wir versuchen aber natürlich stets, alles bewältigen zu können.

Sie mussten aufgrund von Corona Ihren Alltag von einem Tag auf den anderen umstellen. Es kamen viele neue Aufgaben hinzu. Wie war das für Sie und Ihr Team?
Schwierig. Wir haben auch unter normalen Umständen alle Hände voll zu tun. Nun arbeiten wir seit einem Jahr mit einem Notfalldienstplan.

Was bedeutet das?
Bei gravierenden Änderungen der Massnahmen ist jeweils das ganze Korps im Einsatz. Dies, um der Bevölkerung sofort Hilfestellungen bieten zu können. Man erwartet von der Polizei, dass sie alle Fragen beantworten kann. Die neuen Verordnungen auf Bundes- und Kantonsebene sind deshalb immer Pflichtlektüre für uns.

Was müssen die Polizistinnen und Polizisten vor allem mitbringen im Moment? Sie müssen im Dienst einiges aushalten können und auch in der Gestaltung des Arbeitszeit Flexibilität beweisen. Im letzten Frühling und Frühsommer waren wir täglich – auch am Wochenende – am Abend mit Doppelpatrouillen unterwegs. Und der Tagesdienst musste natürlich auch abgedeckt sein. Das war eine grosse Belastung und bedeutete eine Menge Überzeit für uns alle.

Konnten aufgrund von Corona andere Aufgaben nicht erfüllt werden? Mir ist nichts bekannt. Auch sämtliche Einsätze, welche uns über die Notrufnummer 117 erreichten, konnten bewältigt werden. Dies auch dank dem Einsatz jedes einzelnen Polizeifunktionärs.

Wie wollen Sie in dieser Krise von der Bevölkerung wahrgenommen werden?
Wir möchten auch jetzt als eine bürgernahe Polizei wahrgenommen werden, welche stets verhältnismässig handelt. Uns ist durchaus bewusst, dass dies eine belastende, schwierige Zeit ist. Das geht uns Polizistinnen und Polizisten nicht anders als dem Rest der Bevökerung.

Gab es Situationen, die Sie oder Ihr Team besonders belasteten?
Es gab viele Schicksale in dieser Zeit, die uns nahe gingen. Zum Beispiel die vielen Einlieferungen in psychiatrische Kliniken. Ein anderes Beispiel: Kürzlich mussten wir in den Sihlwald ausrücken, weil dort laut Meldung eine illegale Party stattfinden würde. Als unsere Patrouille dort ankam, befanden sich dort tatsächlich mehr als die erlaubten fünf Personen. Sie machten aber keine Party, sondern nahmen dort gemeinsam Abschied von einer verstorbenen Person. Es war für uns sehr schwierig, den Trauernden mitzuteilen, dass dies verboten sei. Diese Anekdote zeigt auf, dass die Arbeit rund um Corona nicht immer einfach ist und es auch uns zum Teil schwerfällt, die Regeln durchzusetzen.

Was hilft Ihnen?
Der sehr gute Zusammenhalt, den wir innerhalb des Polizeikorps haben. Wir können trotz allem auch noch zusammen lachen. Das gibt Kraft. Aber es ist zweifelsohne eine hohe Belastung, die uns stark beschäftigt und bei der wir auch noch kein Ende sehen.

Auf was freuen Sie sich am meisten, wenn die Krise vorbei ist? Auf ein gemeinsames Nachtessen in einem Restaurant in Wädenswil mit meiner Frau.